KATASTROPHEN
Tod durch Ersticken
Vor 20 Jahren ereignete sich der größte Giftgas-Unfall aller Zeiten
Wenn Amerikaner im Ausland mal versehentlich ein paar Eingeborene umbringen, passieren vier Dinge: erstens gibt es eine Pressekonferenz, auf der zweitens dann von aber sowas von gnadenloser Aufklärung des bedauerlichen Vorfalls die Rede ist, dass drittens weitere Nachfragen leider verfrüht sind, weil man ja alles noch untersuchen muß. Viertens hört man in der Regel danach nie wieder was von der Sache.
Dieser unerhört transparante Umgang mit Katastrophen funktioniert immer, egal ob es dabei um 60 Tote einer afghanischen Hochzeitsgesellschaft geht, die aus Versehen bombardiert wurden, oder um schätzungsweise 10.000 Opfer einer Giftgasexplosion im indischen Bhopal, wo vor 20 Jahren eine abgeschaltete Pestizid-Fabrik des US-Konzerns Union Carbide in die Luft ging. Weil die Anlage außer Betrieb war, waren auch sämtliche Sicherheitsvorkehrungen abgeschaltet worden. Dass noch gut 60 Tonnen einer giftigen und hochreaktiven Substanz gelagert wurden, die eigentlich auf 0 Grad Celsius herabgekühlt werden musste, zum Zeitpunkt des Unglücks aber seit über einem Monat bei gemütlichen 20 Grad vor sich hin schwappte - das war irgendwie niemandem aufgefallen. Als die Giftgaswolke dann vor allem im angrenzenden Armenviertel tausende von Opfern fand, weigerte sich der Konzern, bekanntzugeben, woraus das Gas bestand. So konnte auch Überlebenden nicht geholfen werden. Die Opfer starben in Minutenschnelle, erstickten qualvoll, wahrscheinlich an einer Blausäurevergiftung.
Fünf nach zwölf in Bhopal haben die Journalisten Dominique Lapierre und Javier Moro ihr Rechercheergebnis genannt. Eher romanhaft angelegt, verfolgen die Autoren vor allem das Leben in den drei Armenvierteln, in die hinein die Pestizid-Fabrik gebaut wurde. Es ist vor allem ein Roman über Indien, das sie nicht müde werden, voll Begeisterung zu beschreiben. Dabei unterschlagen sie keinesfalls die örtliche Korruption, aber sie feiern vor allem die Hilfsbereitschaft und den persönlichen Mut vieler Beteiligter. Was in Bhopal am 2. und 3. Dezember 1984 und Wochen danach aus privater Initative heraus geleistet wurde, ist bewundernswert. Ein Restaurantbesitzer alarmiert alle Kollegen und karrt Essen vor die Krankenhäuser, einer besorgt lastwagenweise Decken, ein anderer Holz (für die Leichenverbrennung), die Apotheker der Umgebung bringen Medikamente.
Das Buch ist etwas langatmig und streckenweise arg folkloristisch geraten. Zudem hat der Verlag eine Übersetzung spendiert, die bisweilen die deutsche Sprache allenfalls streift: "In der Notiz ist versäumt, auf eine Vorsichtsmaßnahme hinzuweisen." - das erleichtert die Lektüre nicht gerade.
Lesen sollte man Fünf nach zwölf in Bhopal dennoch. Weil es beschreibt, dass die "Globalisierung" ein alter Hut ist. Der entscheidende Stoff für Bhopal wurde 1957 entdeckt (ein Druckfehler im Buch datiert den Vorgang auf 1975), in den 60ern begann die Euphorie, mit Pestiziden die Ernten in der "Dritten Welt" retten zu wollen, in den 70ern begann der Technologietransfer (wir bauen den armen Indern eine Fabrik), und in den 80ern entdeckte man, dass man alles falsch eingeschätzt hatte: die Wirkung des Stoffes, die Nachfrage, das Wetter, den Preis, den Vertrieb. Dann geht man nach Hause und legt die Anlage mangels Profit still. Und wartet darauf, dass sich alles von selbst erledigt. Schlimmstenfalls muss man noch eine Pressekonferenz abhalten.
Erich Sauer
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