Leise Töne Wenn die Lady erstarrt Sabine Bergk folgt den Gedanken einer Souffleuse Da steht sie, die Gilsbrod. Schmettert seit Sekunden, seit Minuten einen gewaltigen Ton von der Bühne. Es soll ihr großer Höhepunkt werden: ihr erstes viergestrichenes C, gesungen an einem kleinen Stadttheater. Sie arbeitet sich zum Finale voran und dann passiert das Schreckliche: sie vergisst zum ersten Mal, wie es weiter geht. "Non so d'amarti" müsste sie singen, aber sie hat den falschen Weg eingeschlagen und hängt bei einem so nicht gewollten "non sa". Nicht nur für sie, die es an dem kleinen Theater mit allerlei divenhaften Anflügen zum Star gebracht hat, ein Moment zwischen Erfüllung und Katastrophe. Das Publikum, der Dirigent, der Intendant, alle lauern darauf, dass ES passiert und sie ihren Höhepunkt vermasselt. Dabei ist es ihr Erfolg, der dem Theater seine Existenzberechtigung erteilt. All das erfährt der Leser durch die Souffleuse, die an eben diesem Theater arbeitet. Schon ihre Mutter hatte ihre Erfüllung darin gefunden, am Rand der Bühne in einer goldenen Muschel versteckt, den Künstlern zu helfen, ohne dass man sie dabei sehen konnte. Doch die goldene Muschel versperrt auch die Sicht auf die Gilsbrod, die es schafft, dass das große Ding auf den Dachboden entsorgt wird. Seitdem sitzt die Souffleuse ganz am Rand, wo sie kaum etwas hören und auch nichts sehen kann. Und dann passiert es eben: die Gilsbrod bleibt hängen und die Souffleuse...sagt nichts. Sie starrt in den weitgeöffneten Mund der Sängerin und beginnt, sich Gedanken zu machen: über das Theater, die Gilsbrod, ihre eigene seltsame Kindheit, ihre Mutter, über die Kündigung, die sie erwartet. Sie assoziiert sich durch ihr eigenes Leben, während sich ein anbahnendes viergestrichenes C vor ihr aufbaut und endlich die Halle erfüllen möchte. Sabine Bergk ist auf 130 Seiten ein wahnsinniger Satz gelungen; nur Kommata hat sie zugelassen. Warum das so sein muss, das lässt die Autorin ihre Hauptfigur selber sagen: "eine so lange Kadenz zu singen ohne zu atmen, ab und zu muss man doch einen Punkt machen und durchatmen, aber die Gilsbrod weiß, wenn sie atmet, wird es zu Ende sein ...". Und tatsächlich geht dieser Metakommentar auf. Form und Inhalt passen hier zusammen wie nur selten, wenn Formspielereien angewendet werden. Ein Gedankenstrom, den man nicht unterbrechen darf. Bis zum fulminanten Ende. Sacha Brohm
Sabine Bergk: Gilsbrod. Dittrich Verlag, Berlin 2012, 130 S., 14,80
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