SEHNSUCHT & NÄHE Unterm Hemd Sibylle Berg behauptet, einen Roman über die Liebe geschrieben zu haben. Der Roman heißt Der Mann schläft und handelt von einer Frau, der die ganze Welt abhanden gekommen ist, ohne dass sie erklären könnte, wie es dazu kam. Die Frau hat langweilige Freunde, die scheinbar nie ein Buch lesen. Sie wohnt in einem Haus mit lauter alten Damen, mag keine Menschen, Männer erst recht nicht, und ist die vielen jungen Liebhaber leid, die sie nur spüren lassen, dass sie alt und unattraktiv wird. Die Frau sieht von weitem aus wie Frau Berg. Das große Talent von Sibylle Berg besteht zweifellos darin, zugespitzt und poetisch präzise zu lästern. Die Frau in ihrem Roman erzählt: "Ich saß in einem derart gelben Büro, dass ich, aus Sorge mich zu kontaminieren, versuchte, nichts zu berühren." Solche witzigen Sätze gibt es viele. Etwa: "Ich wünschte, ich hätte ein Tier. Ich könnte es verhungern lassen." Das Problem ist, dass man auf diese Art viel über das Weltbild der namenlosen Heldin erfährt (und vermutlich auch das von Frau Berg), dass aus solchen Sätzen aber keine Geschichte entsteht. Und Personen erwachsen daraus auch nicht. Denn die klingen alle so wie die Heldin und reden in genau deren Tonfall. Dass Männer weniger denken als Frauen wird uns sehr witzig erklärt. Aber warum die Heldin sich in den Mann verliebt und vice versa - bleibt im Dunkeln. Nun gut, der Kerl ist ein gutmütiger Riese und sie kann unter sein Hemd kriechen und sich dort vor der Welt verstecken, was sie offensichtlich genießt. Aber eine Liebesgeschichte wird daraus nicht. Nur eine Parabel über die Liebe. Denn zwischen den Kapiteln der Geschichte des Kennenlernens und der ersten Annäherung (die beginnt ungefähr auf Seite 90, Frau Berg hat Zeit), stehen jene, die den aktuellen Katzenjammer des Verlassenseins beschreiben. Die Frau ist allein, der Mann ist weg, das Leben ist sinnlos. Sibyllye Berg stellt das sehnsuchtsvolle, elende Befinden ihrer Heldin gegen das intellektuelle Dauerfeuer der Nörgelei, sie hat ein ganzes Buch mit Einwänden gegen die Liebe geschrieben, in dem die Liebe, ganz nebenbei, im letzten Satz gewinnt - das ist eines der Kunststückchen (oder "niedlichen Boshaftigkeiten" würde Frau Berg schreiben), wegen derer man Berg-Bücher genießt. Gerade weil man sich während der Lektüre so schön ärgert über diese andauernd wohlformulierte Besserwisserei und Misanthropie. Thomas Friedrich
Sibylle Berg: Der Mann schläft Hanser, München 2009, 309 S., 19,90
|