EVOLUTION

Langer Weg zum Ende

Stephen Baxter schreibt den Roman des Lebens neu

Am Anfang schippern ethnisch gemischte und teils genkorrigierte Damen zu einer Überlebens-Konferenz, ständig bedroht von Öko-Terroristen und dem drohenden Kollaps der Bisophäre. Dann taucht der Autor ab in die fernste Vergangenheit: zu einem Morgen, an dem unser aller Säugetiervorfahr einem Dinosaurier entkam, kurz bevor der große Komet einschlug. Am Ende, über 600 Seiten und Milliarden Jahre später, kracht noch ein Kosmos-Brocken auf die Erde. Aber da lebt längst nichts Menschliches mehr.
Dazwischen hoppelt Stephen Baxter die wichtigsten Stationen der Evolution in einer Art Kurzgeschichten-Sammlung ab. Mal belegte, mal erfundene Lebensformen kriegen dramatische Auftritte im Kampf ums Überleben und die Fortpflanzung der eigenen Gen-Spielart. Erstaunlich stark ist dabei Baxters Hang zu den Müttern jeder Generation. Eine erfundene Saurierin erfindet der ersten Speer, aber ihre Spezies stirbt folgenlos aus - eine Vorfahrin der antropologisch belegten "Lucy" wird die Ahnin aller Religion in Folge des ersten Bewusstseins-Dämmers. Etwa so: Es gibt Kausalität (ich hau dich, du bist tot), also muss es einen Verursacher auch für Zufälle geben (es blitzt, meine Tochter ist tot). Na ja.
Baxter entwirft die Idee der Kultur, von der Brutpflege bis zur politischen Intrige, als Überlebens-Tool. Und er schildert, wie über die Jahrmillionen immer wieder perfekt angepasste Lebensformen den Anschluss an die aktuellen Änderungen der Umwelt verpassen. Oder wie der letzte Genstrang mit "menschlichen" Eigenschaften sich symbiotisch mit einem fernen Pflanzenwesen mischt und verschwindet - im letzten Kapitel.
Baxter wollte kein Lehrbuch der Evolution schreiben, aber er hat sich von Professoren Korrekturlesen lassen. Ganz falsch ist also wohl kaum was. Ganz richtig aber auch nicht. Wo die Entwicklung umstritten oder unbelegbar ist, drückt sich Baxter lieber dramatisch als datennah aus: da verlaufen sich Cro-Magnon-Kinder, kriegen einen Neanderthaler als Pflegevater und gucken traurig zu, wie nachrückende "neue Menschen" ihn erschlagen.
Baxters Evolution bedient kosmisch angeknallte Science-Fiction-Freunde und genetisch freizügige Feministinnen, Einzelschicksal und Sippenhaft kommen zusammen, und zum Schluss ist die Katastrophe fast ein Trost: "wir" überleben zwar nicht, "wir" verschwinden schon weit bevor die Sonne ausbrennt, aber "das Leben" übernimmt uns, ebenso fürsorglich im Großen und Ganzen wie hoffnungslos im Einzelfall.
WING
Stephen Baxter: Evolution Aus dem Englischen von Martin Gilbert. Heyne, München 2004, 827 S., 11.95 ISBN: 345387546X