GEFÜHLE

Autismus und Thunfisch

Ein Roman über Selbstwertgefühle und Lebensformen

Karen ist nicht wie die "Standardmenschen", die so viele unterschiedliche Gefühle haben, die die Autistin nicht versteht. Erst mit neun Jahren lernt sie, was "ich" und "ich" zu sein bedeuten.

Die Jahre davor wurde sie sich selbst überlassen weil ihre Mutter sich für sie schämte. Als ihre Mutter stirbt, erbt ihre Tante Isabella die Thunfischfabrik der Familie samt Haus und autistischem Mädchen. Isabella fordert und fördert Karen unermüdlich, bis sie sprechen, schreiben und lesen kann.

Karen ist eine Autistin mit Inselbegabung, sie hat ein fotographisches Gedächtnis. Als junge Frau verlässt sie das kleine mexikanische Fischerdorf, um in den USA Zoologie zu studieren. Sie versteht nicht, warum Menschen glauben, sich von den anderen Säugetieren zu unterscheiden, zumal sie sich auf dem Meeresgrund bei den Fischen am sichersten fühlt. Doch gerade deshalb ist sie erfolgreich darin, neue Methoden des Thunfischfangs und der Thunfischzucht zu entwickeln und wird bald Millionärin.

Einfühlsam, pointiert und humorvoll formuliert die mexikanische Autorin Sabina Berman ihren Roman aus Karens Perspektive. Die entwickelt sich vom bemitleidenswerten Menschlein zu einer starken, erfrischend sachlichen Protagonistin, die Widersprüche des menschlichen Seins entlarvt und trotz ihrer Andersartigkeit, den "Standardmenschen" in nichts wesentlichem nachsteht.

Es ist herrlich zu lesen, wie Karen die unterschiedlichen menschlichen Gefühlsregungen zu deuten lernt und einige Gesichtsausdrücke ihrer Gesprächspartner durch Symbole darstellt (ein erstauntes Gesicht: ĝoĝ). Doch Die Frau, die ins Innerste der Welt tauchte beschreibt nicht nur das Leben einer Autistin sondern stellt auch die Frage, mit welchem Recht die Menschen sich über jede andere Lebensform auf der Welt stellen.

Janne Hiller
Sabina Berman: Die Frau, die ins Innerste der Welt tauchte. Aus dem Spanischen von Angelica Ammar. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2011, 303 S., 19,95