UTOPIE
Land unter
Pierre Vidal-Naquet sucht das Atlantis in den Köpfen
Atlantis lebt! Das mytische Land unter dem Meer. Vor 2500 Jahren erzählte Platon davon, vor ein paar Jahren noch sangen die No Angels darüber, und seit ungefähr 50 Jahren gilt es in Deutschland als akademisch völlig unmöglich, sich mit dem versunkenen Insel-Reich zu beschäftigen. Als Ergebnis graben nun immer wieder Laien-Spinner Atlantis von Helgoland bis Troja aus und "Expeditions"-TV-Magazine verbreiten bunte Gerüchte.
In Frankreich ist das anders. Pierre Vidal-Naquet, renommierter Historiker, zeigt mit Atlantis - Die Geschichte eines Traums, dass dort richtige Wissenschaftler an Atlantis arbeiten, und dass sie es ganz anders tun als erwartet. Vidal-Naquet plaudert nämlich gerne, aber bleibt dabei genau. Er liest die Quellen im Originaltext, aber eher beiläufig, weil wir doch sicher alle nicht nur Platon, sondern auch Kosmas und Flavius Josephus noch aus der Schule kennen. Vidal-Naquet schreibt offensichtlich für gebildete Stände mit einem humanistischen Abitur. So etwas hat man hierzulande kaum noch. Und schließlich: Vidal-Naquet deutet Atlantis rein ideeengeschichtlich. Platon hielt seiner Zeit kritisch einen Kunst-Staat vor, so wie es danach immer wieder Utopien machten.
In der weiteren Geschichte des Atlantis-Traums findet der Autor nun auch in vielen "realistischen" Deutungen, die das Reich für wahrhaft versunken halten, starke ideologische, oft "nationale" Züge überall in Europa. Erst spät entdecken in Deutschland "völkische" Autoren Atlantis als Heimat der Arier - und 1944 schreibt Victor Ullmann in Theresienstadt gegen sie die Oper "Der Kaiser von Atlantis". Danach ist die Insel hierzulande erledigt. Der Rest der Welt aber nutzt sie weiterhin als Paradiesersatz. Pierre Vidal-Naquets Buch ist ein etwas umständlicher aber lehrreicher Reiseführer dahin.
wing
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