GESCHICHTE
Das große Morden
»Operation Nemesis« gibt sich als Völkermord-Krimi
Das Thema ist aktuell und politisch schwierig. Massakrierte damals, am 24. April 1915, der osmanische Sultan etwa eine Millionen "Türken", nur weil sie "armenisch" waren? Duldeten Kaiser und staatstragende Opposition hierzulande die Gräuel aus Treue zum Weltkriegs-Waffenbruder, obwohl Muslime Christen umbrachten? Ist es heute türkenfeindlich, das Ende der nationalen Verdrängung in Ankara zu fordern? Oder kurdenfeindlich, die Hilfsdienste zu erwähnen, die das eine unterdrückte Volk bei der Dezimierung des anderen leistete? Wird die "erste ethnische Säuberung" heute als Argument benutzt, um die Türkei aus Europa heraus zu halten, so wie ihre Vorläufer damals, vor dem 1. Weltkrieg, eher verschwiegen wurden, um das schwankende Osmanische Reich bei Europa zu halten?
Rolf Hosfeld erzählt die komplizierte Geschichte als eine Art Krimi und beginnt mit einem Attentat nach dem Fall. 1921 erschießt ein armenischer Student in Berlin den türkischen Exil-Politiker Talaat Pascha. Der war ein paar Jahre zuvor in der Türkei wegen Kriegsverbrechen in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden, genoss aber diplomatisches Asyl. Der Attentäter wurde festgenommen, angeklagt - und schon nach zwei Tagen freigesprochen. Offiziell wegen "eingeschränkter Willensfreiheit", inoffiziell erschien allen Prozessbeobachtern das Opfer als Völkermörder, der Täter aber als sein Richter. "Wer würde Wilhelm Tell verurteilen, weil er den Landvogt erschoss?" flammte sein Rechtsanwalt im Schlussplädoyer. Tatsächlich war das Attentat Teil einer Vergeltungs-Operation des armenischen Untergrunds im amerikanischen Exil.
Rolf Hosfeld rekonstruiert den Feme-Mord und seine lange Vorgeschichte (die ersten Massaker gab es schon 1894) einerseits stark über Personen ("ein schöner Mann"), anfangs auch in reportagehaften Szenen ("drückende Hitze") und mit penibel datierten Einzelaktionen ("25 Reiter am 2. August 1922 beim Dorf Obtar"), was bei den vielen Namen (und ohne Karten und Zeittafel) der Übersichtlichkeit durchaus schadet. Andererseits rutscht er gern mal (zu) kurz ins Globale, mitunter Relativistische: da haben die Türken damals gar den Holocaust erfunden oder die "Beleidigung aller Moslems durch den Westen" bloß, um die nationale "Suche nach Lebensraum" religiös zu verbrämen.
Unstrittig ist, dass die moderne Türkei große Schwierigkeiten mit ihrer Vergangenheit hat ("Völkermord" zu sagen ist strafbare Propaganda), dass die deutsche Regierung informiert war und nichts unternahm, dass es eine organisierte armenische Revolte erst gab, als es fast keine Armenier mehr gab - aber auch, dass der spätere Attentäter der "Operation Nemesis" im Krieg mit einem armenischen Freiwilligen-Regiment auf russischer Seite gegen die Türkei kämpfte. Alles kommt bei Hosfeld vor, winzigste Fakten und schnelle Vergröberungen, riskante Gesamt-Urteile und kluge Einwände dagegen; man muss sich nur mühsam alles heraus suchen.
Andersherum: wer heute die Türkei auffordert, sich mit ihrer Geschichte "vorbehaltlos auseinander zu setzen" (die CDU/CSU neulich im Bundestag) und große Väter der Nation als verurteilte Verbrecher anzunehmen (der in Berlin erschossene Talaat kriegte 1943, auf Betreiben von Papens, ein Staatsbegräbnis in Istanbul), der sollte zugleich einräumen, dass sogar liberale Köpfe wie Friedrich Naumann für "sittlich geboten" hielten, dass wir "gegen die Leiden der christlichen Völker im türkischen Reiche politisch gleichgültig sein müssen". Und auf gar keinen Fall darf "die Armenier-Frage" eine der Opfer-Zahlen werden; ob 1,4 Millionen oder "800.000", wie Atatürk, der Gründer der modernen Türkei 1923 einräumte - "ohne die schützende Hand des Deutschen Reiches" (Hosfeld) wäre der Völkermord kaum möglich gewesen.
WING
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