ARCHIVALIEN

Popos in Nitro

Wo der Film seine Geschichte her hat - ein Fachbuch für Laien

Die Geschichte des Films ist spannender als ... quatsch - eigentlich weiß nämlich keiner immer noch nicht so ganz genau, welche Geschichte das Massenmedium Film eigentlich hatte. Sicher sind nur die Gemeinplätze (früher waren die Filme kürzer), und die sind fast immer falsch (der erste Film war nicht schwarzweiß). Daß er auch nicht stumm war, hat sich erst in den 80ern wieder herumgesprochen, als allüberall Stummfilm mit Live-Musik das Hip-Event für Grenzkulturgänger wurde.
Sind aber die "Stummfilme" Wiederentdeckungen oder Nachbauten, Kulturtaten oder -schanden? Ist die Musik richtiger, wenn sie nicht irrtümlich original tut? Oder hülfe es dem kollektiven Gedächtnis, wenn Whitney Houston Metropolis nicht verclippt hätte?
Solche Fragen stellte sich das 5. Colloquium der Bielefelder Murnau-Gesellschaft im letzten Herbst - und einige Antworten enthält der schmale Tagungs-Band Früher Film und späte Folgen. Praktiker aus mehreren Archiven, Filmvertoner und Festivalorganisatoren denken darin über die Schwierigkeiten ihres Gegenstands nach. Daß frühe Filme oft verloren sind, weil sie auf leichtentzündlichem Nitro-Material gedreht wurden. Daß überlebende oft vergessen bleiben, weil das Publikum heute höchstens Highlights haben will. Daß es auch bei bester Quellenlage unmöglich sein kann, ein historisch korrektes "Original" ins Museum zu stellen ...
Das ist der spannendste Teil des Buches: ein minutiöser Bericht von der Rekonstruktion der Freudlosen Gasse (1925, mit Greta Garbo und Asta Nielsen). Und ein sehr lebendiger: tagelang etwa mußte sich Jan Christopher Horak Nachtclubszenen unter der Lupe ansehen, bis er den Schatten eines nackten Pos am Bildrand hinter der Garbo fand. Und mit dem beweisen konnte, daß eine nur als Standbild überlieferte Strip-Szene zum Film gehört. Weiters ergab sich, daß das "Original" vermutlich komplizierter gebaut war, als alle Filmgeschichtler bisher glaubten, daß fast jede historische Filmbeschreibung auf zensierten und umgeschnittenen Versionen beruht, daß die Freudlose Gasse ihre Wirkung mithin in veränderter Gestalt erreichte. Und daß ihre heutige Form wohl "richtiger" als alle bisherigen, aber immer noch ein paar hundert Filmmeter vom Original entfernt ist.
Falls es das je gab. Andere Beiträge erläutern, daß frühe Filme schon in abweichenden Fassungen aus der Kamera kamen, daß Vorführer bis heute Lieblingsszenen fürs eigene Archiv herausschneiden (es gibt sogar Filme, die genau davon handeln), wie man ein erfolgreiches Fim&MusikFest in Bielefeld macht - und daß die Geschichte des Films eben doch spannender als jeder Film sein kann. Oder jedenfalls aufregender als viele. Und sogar mit Lustgewinn lesbar, wenn man den historischen Hintern nie selbst sehen wird.
WING
Murnau Gesellschaft: Früher Film und späte Folgen. Restaurierung, Rekonstruktion und Neupräsentation historischer Kinematographie Marburg, Schüren 1998, 128 S., zahlr. Abb., 28.- DM