Geschichte Die Nacht der alten Männer Ein ungemein spannendes Sachbuch erzählt vom kläglich gescheiterten Militärputsch 1981 gegen die spanische Demokratie Am 23. Februar 1981 stürmt eine Abteilung der Guradia Civil das spanische Parlament. Der Anführer, Oberstleutnant Antonio Tejero, befiehlt allen Parlamentariern, sich auf den Boden zu legen. Und während die putschenden Soldaten ihrem Auftritt Nachdruck verschaffen indem sie mit ihren Maschinenpistolen in die stuckverzierte Decke des Plenums schießen, werfen sich die Abgeordneten und Minister panisch auf den Boden. Alle - bis auf drei: Der amtierende Ministerpräsident Adolfo Suárez (dessen Nachfolger genau in diesem Augenblick gewählt werden sollte), Suárez' Stellvertreter General Manuel Gutièrrez Mellado, und Santiago Carrillo, der Vorsitzende der spanischen Kommunisten (PCE). Diese drei Männer leisteten den pöbelnden und durchaus bedrohlich auftretenden Krawallsoldaten (die überdies keinerlei Forderungen stellten und den Parlamentariern nur mitteilten, man warte auf eine höhere militärische Persönlichkeit, die alles erklären werde) von Anfang an Widerstand, weil sie den demütigenden Befehl, sich auf den Boden zu legen, verweigerten. "Ich bin der spanische Ministerpräsident", hat Suárez später erklärt, "ich kann mich nicht einfach auf den Boden legen". Heroische Geste In Anatomie eines Augenblicks friert Javier Cercas diesen Moment, diesen Putsch ein. Er untersucht, was diese "heroische und anmutige Geste" bedeutet. Woher nahm Suárez, der Mann, der das Franco-Spanien in den 70er Jahren in mörderischem Tempo in die Demokratie geführt hatte, diesen Mut? Wer war General Gutièrrezz Mellado, der auf den TV-Bildern des Parlamentsfernsehens dabei zu beobachten ist, wie er einen Soldaten anbrüllt, der die Waffe auf ihn gerichtet hält? Und wieso wirft sich Santiago Carrillo nicht zu Boden und raucht stattdessen eine Zigarette nach der anderen, bevor er mit den anderen Fraktionsvorsitzenden in einen anderen Raum gebracht wird? An wechselnden Fronten Aus diesen Fragen generiert Cercas eine lehrreiche und spannend zu lesende Geschichte Spaniens, die sich nicht nur dem Transformationsprozess der 70er widmet, sondern überhaupt sich mit der jüngeren spanischen Geschichte befasst und dabei erstaunliche Parallelen zutage fördert. Gutierrez Mellado etwa hatte als junger Soldat in den 30ern gegen die Spanische Republik geputscht, gegen eine Regierung, die sich nur unwesentlich von jener unterschied, der er jetzt angehörte. Suárez, der aus der falangistischen Jugendbewegung kam, hatte es sich bis zum Februar 1981 mit Allen und Jedem verdorben. Der König stand seinem möglichen Rücktritt wohlwollend gegenüber, die Militärs forderten nahezu täglich seinen Kopf, und selbst die Sozialisten hatten zu erkennen gegeben, dass sie eine "Expertenregierung" unterstützen würden, die Suárez nachfolgen sollte und der sie selbst angehören sollten. Santiago Carrillo, gemeinsam mit dem Italiener Berlinguer der Erfinder des sogenannten Eurokommunismus, war vielleicht der einzige Freund, den Suárez noch im Parlament hatte, vor allem nachdem der gegen allen Rat die kommunistische Partei legalisiert hatte. Und Carrillo wusste, dass er im Falle des Gelingens diesen Putsch nicht überleben würde. Wie in einem Film hält Cercas die Handlung jenes Tages im Parlament und im Königspalast und in den Kasernen immer wieder an und stellt sich den Biografien und Erfahrungen dieser drei Männer. Er analysiert die spanische Situation (Suárez war gegen einen NATO-Beitritt Spaniens, weswegen die USA offensichtlich nichts gegen diesen Putsch hatten), Fragen der Verfassung (kann man ein Parlament mit Waffengewalt zwingen, eine neue Regierung zu wählen?), die Situation des Königs (dessen Stellung nach Francos Tod keineswegs gefestigt war) und immer wieder den Charakter Suárez', dieses "Schleimer, Opportunisten, Laufburschen, Windhund" (Cercas), der alle überraschte, als er die Demokratisierung mit ungeahntem Tempo vorantrieb. Er hatte die Demokratie für Spanien erfunden, so Cercas, er konnte sie sich unmöglich aus der Hand reißen lassen. Geschichte ist kein Roman In einem "Nachwort zu einem Roman", das dem Buch vorangestellt ist, beschreibt Cercas seinen Versuch, aus diesen Geschehnissen ursprünglich einen Roman gemacht haben zu wollen, von dem er bereits 400 Seiten geschrieben hatte, bevor er merkte, dass die Wirklichkeit viel zu komplex ist, als dass sie in diesem Fall durch einen Roman beschrieben werden könnte. Das Sachbuch, das Cercas dann schließlich schrieb, erhielt in Spanien 2009 den Literaturpreis als beste Erzählung, was vor allem der Sprache und der andauernden Reflektion des Erzählers geschuldet ist, der seine gefundenen Wahrheiten ständig in Frage stellt und der Suárez an Ende einen sehr "anständigen Mann" und "keinen Laufburschen und Schleimer" nennt und ganz unpathetisch vermutet, dass er dieses Buch wegen seines Vaters geschrieben habe, dessen Biografie der Suárez' verblüffend ähnlich war. Erzählt wie ein großer Roman, ist Anatomie eines Augenblicks der Geschichts-Thriller eines Autors, der alle Kniffe der Belletristik nutzt, um der Wirklichkeit nahezukommen. Ein Putsch, der eigentlich gar nicht schief gehen konnte, scheiterte gegen alle Wahrscheinlichkeiten an der Eitelkeit und sturen Beharrlichkeit (aus unterschiedlichen Gründen) von knapp einen halben Dutzend Männern. Der Rest Spaniens hatte die Nacht schweigend und abwartend verbracht. Anders als später in Russland ging niemand auf die Straße, um die Demokratie zu retten. Am 24. Februar 1981, ein Tag nach dem Putsch, war das alte Franco-Spanien endgültig und unumkehrbar erledigt. Erich Sauer
Javier Cercas: Anatomie eines Augenblicks, Die Nacht, in der Spaniens Demokratie gerettet wurde Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. S. Fischer, Frankfurt 2011, 570 S., 24,95
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