KINDER
Durch Träume gehen
Amélie Nothomb nimmt ein kleines Mädchen bei der Hand
Mit 19 wird Lucette ein Kind kriegen, im Moment ist sie einfach nur schwanger. Und kann nicht schlafen, weil das Kind im Bauch einen Schluckauf hat. Außerdem fällt Lucette ein, dass Fabien, der tief schlafende Vater des Kindes, den Namen "Tanguy" vorgeschlagen hat, falls es ein Junge wird. Als "Tanguy", denkt Lucette, kann man bestenfalls Fußballspieler werden, ihr Kind aber soll mal was ganz besonderes werden. Und weil Fabien diese Zukunft zu bedrohen scheint, steht sie auf, holt Fabiens Revolver und schießt dem Vater ihres Kindes in die Schläfe, bis das Magazin leer ist.
Im Gefängnis bringt Lucette ihr Kind zur Welt, ein Mädchen, das sie "Plectrude" nennen will. Was ist das denn für ein Name!? sagen Wärter und Mitgefangene. Mit diesem Namen soll das Mädchen mal etwas Großes werden! sagt Lucette beleidigt und erhängt sich in ihrer Zelle - und da sind wir gerademal auf Seite 17 von Amélie Nothombs Novelle Im Namen des Lexikons.
Lucettes Schwester Clémence adoptiert Plectrude und liebt sie abgöttisch. Was das schöne Mädchen mit den großen Augen auch anstellt, Clémence ist begeistert. Zwar ist die Adoptiv-Tochter in der Schule eine Null und bald berühmt für ihre vollkommen sinnlosen Antworten, dafür kann sie aber wunderbar tanzen und wird eine brillante Ballett-Schülerin.
Plectrude ist nicht dumm, sie interessiert sich nur nicht für die Welt: Was die seltsame Person da vorne an der Tafel erzählt, hat nichts mit Plectrudes Wirklichkeit zu tun, in der Prinzessinnen, Drachen und Ritter miteinander ringen: "Zehn Jahre alt zu sein ist übrigens das Beste, was einem passieren kann. Besonders für eine kleine Ballettschülerin unter dem Glorienschein ihrer Kunst. Wenn man zehn ist, steht die Sonne der Kindheit im Zenit. Noch ist am Horinzont kein Zeichen der Adoleszenz zu sehen: nichts als die ausgereifte Kindheit, reich an zehnjähriger Lebenserfahrung, noch kein Gefühl des bevorstehenden Verlustes, wie es die ersten Anzeichen der Pubertät begleitet" - man sieht, Amélie Nothomb liebt ihre Hauptfigur sehr.
Plectrude wird entdecken, dass die Welt, auch wenn man sie nicht wahrnimmt, wehtun kann. Sehr sogar. Für diese Erfahrung wird sie von ihrer Autorin allerdings liebevoll an der Hand genommen (wörtlich! Frau Nothom tritt in ihrem eigenen Buch auf) und durch die Hölle einer professionellen Ballett-Schmiede geschickt. Wobei wir lernen, dass die Erfüllung unserer Träume der schlimmste Albtraum sein kann und dass das Glück manchmal um eine Ecke kommt, die wir gar nicht mehr im Blick hatten.
Im Namen des Lexikons steigert sich in ein wahrhaft furioses Finale, bei dem der Autor Ionesco, ein Mord und ein sehr netter Mann eine große Rolle spielen.
Trotzdem verläuft sich Amélie Nothomb nicht in ein happy end, ihre Novelle bleib einfach irgendwo stehen, sehr böse, sehr rätselhaft, irgendwo zwischen Traum und Wirklichkeit. Niemand kann das so gut und so klug wie Amélie Nothomb.
Thomas Friedrich
|