WUNDERLAND

Drei Frauen

Melanie Benjamin sucht die weibliche Seele im Kinderbuch.

Einerseits wird Alice Liddell nicht älter, seit sie 1862 zum Vorbild der "Alice im Wunderland" wurde, die bis ins heutige 3D-Kino hinein als staunendes Kind die erwachsene Welt ziemlich absurd aussehen lässt. Andererseits veränderte sich das Bild vom Kind und der Umgang mit Kinderbildern seit Königin Viktoria doch sehr. Dass der etwas verschrobene Mathematiker Charles Dodgson in seiner Freizeit gern kleine Mädchen in zerrissenen Hemdchen fotografierte, wäre heute fast schon Skandal genug. In viktorianischen Tagen aber schenkte man sich in der Upper Class Weihnachtspostkarten mit nackten Kindern, weil sie so süß und unschuldig aussahen. Die Fotografen hielt man bloß für simple Handwerker. Warum warf dann Familie Liddell den gerade als Lewis Carroll bekannt werdenden Autor aus dem Haus und verbrannte seine Briefe an die wahre Alice? Warum tilgten die Dodgsons Spuren der Bekanntschaft aus allen erreichbaren Tagebüchern?

Melanie Benjamin weiß es auch nicht. Aber sie erzählt jetzt die Lebensgeschichte von Alice Liddell aus den Augen der 80jährigen, die zeitlebens darunter litt, "Alice" gewesen zu sein und am Ende sogar das Vorbild des anderen Kinderbuchklassikers, den wahren "Peter Pan" traf, der auch nicht glücklich mit seinem Ruhm wurde.

Im ersten Drittel ihres halbwahren Romans folgt Benjamin eng den überlieferten Fakten und erfindet ein Mädchen, das sich an den Aufmerksamkeiten eines seltsamen Genies erfreut und schnell erwachsen werden will, um den linkischen Freund heiraten zu können. Ein pädophiler Schatten liegt über der Idylle, aber Alice erinnert sich nur an Sonnentage.

Erst im zweiten Drittel kommt Charakter ins Spiel. Carroll ist out of bonds, Alice ist 23 und verliebt sich in den Sohn der Königin. Als "Alice" ist sie Star in den Salons, als ewiges Kind weiß sie nicht, wie man erwachsen werden soll.

Melanie Benjamin erfindet dann noch viel, um ihrer Alice ein pralles Leben voller Schicksalsschläge zu geben (zwei Söhne fallen im 1. Weltkrieg). Das schwärmende Kind, die umschwärmte Geliebte, die Mühen der Ebene und die alternde Frau kommen dann erst am Ende zusammen, wenn Alice sich endlich erinnert, damals sei eigentlich gar nichts passiert. Ihre eifersüchtige Schwester habe es nur falsch verstanden, dass die kleine Alice den 20 Jahre älteren Charles küsste, weil sie nicht mehr das Kind sein wollte, das er ein paar Jahre zuvor im zerrissenen Hemdchen fotografierte.

Wing
Melanie Benjamin: Alice und ich Aus dem Amerikanischen von Gerlinde Schermer-Rauwolf und Thomas Wollermann. C. Bertelsmann, München 2010, 368 S., 19,95